Soolbrunzer, 17. November 2020, um 18:01
So, das wird jetzt wieder einmal lang und ausschweifend (und ich muss es über mehrere Kommentare verteilen ), aber ich muss jetzt mal irgend zu ein paar Thesen, Mythen und Narrativen Stellung beziehen, die wiederholt im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie sowie zum Umgang mit derselben gestreut werden.
Soolbrunzer, 17. November 2020, um 18:02
zuletzt bearbeitet am 17. November 2020, um 18:05
Zunächst einmal hört man oft, dass unsere Grundrechte und die Demokratie sind durch die
Corona-Maßnahmen in Gefahr seien. Naja. Zunächst einmal sind die Corona-Maßnahmen aufgrund demokratisch-rechtsstaatlicher Regeln zustande gekommen. Das Grundgesetz erlaubt die Einschränkung von Grundrechten ausdrücklich aufgrund (demokratisch legitimierter!) Gesetze – z.B. können auf Grundlage des Strafgesetzes unter bestimmten Voraussetzungen die Freiheiten einer Person erheblich eingeschränkt werden, wenn sie zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden. Auch das Infektionsschutzgesetz erlaubt es der Exekutive Grundrechte einzuschränken, so geschehen im ersten und nun im zweiten „kleinen“ Lockdown. Und die wurden nicht – so ein wiederkehrendes Narrativ – diktatorisch oktroyiert, sondern die verschiedenen Länderregierungen haben sich auf Maßnahmen geeinigt, die jeweils (möglichst vergleichbar) in allen Bundesländern per Verordnung gelten – übrigens an Anzeichen von vertikaler Gewaltenteilung in einer bundesstaatlichen Demokratie. Der letzte, „kleine Lockdown“ wurde überdies – ich glaube, in allen Bundesländern, aber auf jeden Fall in Bayern – in den Länderparlamenten über Dringlichkeitsanträge gebilligt. Insoweit ist die aktuelle Corona-Politik definitiv parlamentarisch gedeckt. Im Übrigen befürworten allen Umfragen (die ich hierzu gelesen habe) zufolge stets mindestens zwei Drittel der Bevölkerung die aktuelle Corona-Politik – man kann als „Kämpfer für die Demokratie“ durchaus auch mal zur Kenntnis nehmen, dass in einer Demokratie die Mehrheit entscheidet. Seit anderthalb Jahrzehnten muss ich nun mit einer Kanzlerin Angela Merkel leben, deren politische Vorstellungen ich grundsätzlich NICHT befürworte – aber die Mehrheit hat sie eben gewählt. Mehrfach. Isso. Tja, Demokratie funktioniert für die Minderheit seit jeher nur bedingt...
Ich möchte außerdem hinzufügen, dass die Parlamente in den Sommermonaten und auch jetzt
alle Möglichkeiten der Gesetzgebung selbst in der Hand halten. Warum sie inaktiv bleiben ist ihr Geheimnis – bei einem Herrn Lindner jedoch nicht: Der will selbst nur jammern; Verantwortung übernehmen ist nicht so seine Sache, wie die Koalitionsverhandlungen nach der letzten Bundestagswahl unter Beweis gestellt haben.
spielfuehrer, 17. November 2020, um 18:04
Ich bin noch dabei, weiter bitte!
Soolbrunzer, 17. November 2020, um 18:05
Warts ab, SF...
Soolbrunzer, 17. November 2020, um 18:05
zuletzt bearbeitet am 17. November 2020, um 18:07
Weiterwird immer wieder darüber diskutiert, dass die Maßnahmen schädlich seien und als Gegenentwurf konstruiert, dass wir einfach lernen müssten, „mit diesem Virus zu leben“. Aha. Lernen, mit SARS-CoV-2 zu leben. Nun, das werden wir. Wenn die Pandemie vorüber ist, und das wird sie irgendwann auch sein. Nur halt nicht jetzt. In der „ersten Welle“ im Frühjahr ist unser Gesundheitswesen durch Corona ziemlich an die Grenzen gekommen, und auch jetzt ächzt es wieder. Die Pandemie gefährdet das Gesundheitswesen – weil das scheint auch nicht allen ganz klar zu sein – in zweierlei Hinsicht: Erstens muss eine nicht unerhebliche Zahl stationär im Krankenhaus behandelt werden, ein bestimmter Teil dieser Patient/innen muss intensivmedizinisch behandelt, teils beatmet werden. Diese Behandlung ist v.a. deshalb aufwändiger als „normale“ Behandlungen, weil die Patient/innen unter Isolationsbedingungen behandelt werden müssen. Zweitens fallen infizierte Mitarbeiter im Gesundheitswesen aus. Das heißt, zum einen erfordert die Pandemie Kapazitäten, die sie zum anderen dezimiert. Je mehr wir die Pandemie „frei drehen“ lassen, umso mehr setzen wir das Gesundheitswesen aufs Spiel. Und das benötigen wir ja nicht nur für Corona-Patienten. In einem kollabierten Gesundheitssystem müsste man vielleicht der/m Patient/in/en mit Herzinfarkt vor der geschlossenen Notaufnahme sagen (oder den Angehörigen): „Tja, Sie müssen wohl lernen, mit dieser Krankheit zu leben.“ Zynisch? Aber sicher. Und genau das gilt es in jedem Fall zu vermeiden.
spielfuehrer, 17. November 2020, um 18:06
Ich steh auf der a3 im stau, kein problem!
Soolbrunzer, 17. November 2020, um 18:08
Na dann, ä bissle hab ich noch - aber hoffentlich bald wieder freie Fahrt!
Soolbrunzer, 17. November 2020, um 18:09
zuletzt bearbeitet am 17. November 2020, um 18:10
Deshalb – und ich fürchte, dass leider immer noch die wenigsten dieses Phänomen begreifen – sind die Corona-Schutzmaßnahmen keine Maßnahmen des vielfachen individuellen Eigenschutzes, von dem ich eigenmächtig sagen kann: „Ich habe keine Angst davor, ich schütze mich nicht – das ist doch meine Entscheidung.“
NEIN! Hier geht es um gegenseitigen, solidarischen FREMDSchutz. Mit Masken, Abstand, Händehygiene und Lüften schütze ich nicht in erster Linie mich, sondern alle anderen, mit denen ich Kontakt habe – vor meiner feuchten Aussprache, vor meinem Schlonz, vor meinen Aerosolen. Das ist nicht hundertprozentig, dass weiß jeder. Aber es reduziert Wahrscheinlichkeiten deutlich [ Nebenbei: Bereits für die Spanische Grippe ist dokumentiert, dass dort wo konsequente Maßnahmen umgesetzt wurden (inklusive Maskenpflicht – bereits damals! Das wurde alles schon diskutiert, ein Wahnsinn!), Infektions- und Sterberaten deutlich geringer waren als dort, wo die Krankheit frei wüten konnte – kann man ja mal googlen, wenn man mag ]. SOLIDARITÄT ist das Zauberwort; die Maßnahmen wirken umso besser, je mehr Leute sich konsequent daran halten – und dann wird aus kollektivem wieder individueller Schutz. Und auch der Lockdown im Frühjahr hat gewirkt – logisch: Selbst Streeck bestreitet nicht, dass das epidemische Geschehen abflaut, ja abflauen muss, wenn man dem Virus das „Futter“ nimmt, nämlich soziale Kontakte.
Soolbrunzer, 17. November 2020, um 18:11
zuletzt bearbeitet am 17. November 2020, um 18:12
Im Ausblick werden Impfungen auch helfen – wie auch übrigens bei den saisonalen Grippewellen –, denn wenn erstens Mitarbeiter im Gesundheitswesen
und zweitens Risikogruppen möglichst flächendeckend geimpft sind, wird oben erwähnter Doppeleffekt auf das Gesundheitswesen deutlich geringer ausfallen und der Rest schon irgend stemmbar sein. Aber auch hier gilt: Je mehr Leute geimpft sind, umso mehr kollektiver (Fremd-)Schutz ist gegeben; ergo sind auch hier Impfungen von Menschen sinnvoll, die nicht einer der beiden erstgenannten Gruppen angehören, weil die dann auch niemanden aus diesen Gruppen anstecken.
Also, JA: Je eher (vernünftige – ich rede nicht von Sputnik) Impfstoffe verfügbar sind, umso schneller werden wir die allgemeinen Schutzmaßnahmen lockern können. Dann werden wir „mit dem neuen Virus“ leben können – das tun wir übrigens gerade eben schon, nur unter anderen Voraussetzungen.
Außerdem: Viren mutieren tendenziell zu „harmloseren“ Varianten ihrer selbst (siehe auch hier Beispiel Spanische Grippe), ein sehenswertes Video hat hierzu der Molekularbiologe Martin Moder auf YouTube veröffentlicht:
https://www.youtube.com/watch?v=Z4zP79anLk0&t=291s.
HH111, 17. November 2020, um 18:12
@Sool von mir eine klare 2 !Anhängen möchte ich noch,das sogar ein "ausgrufener Ausnahmezustand" demokratisch ist um das ganze system zu schützen! Weiter bin ich seit 5Jahren mit Merkel nicht mehr einverstanden und trage es als demokrat!
Soolbrunzer, 17. November 2020, um 18:13
...unterbrich mich nicht Hans... ^^
Soolbrunzer, 17. November 2020, um 18:13
zuletzt bearbeitet am 17. November 2020, um 18:14
Auch mit dem immer wieder beliebten Narrativ, Corona sei nicht schlimmer als die Grippe hat dieser Molekularbiologe etwas entgegenzusetzen:
https://www.youtube.com/watch?v=AlelK1EDzqA.
Man darf inzwischen davon ausgehen, dass die Infektionssterblichkeit bei Covid-19 etwa zwölfmal höher ist, als bei der saisonalen Grippe – und da habe ich noch nicht einmal von der chronischen Form der Covid-19 gesprochen. Im Unterschied zur Grippe gibt es oftmals nicht unerhebliche Langzeiteffekte, an denen Patient/innen mittlerweile noch Monate nach durchgemachtem Infekt leiden und nach wie vor arbeitsunfähig deshalb sind. Der Grippe-Corona-Vergleich hinkt also auf gleich zwei Füßen.
Soolbrunzer, 17. November 2020, um 18:15
zuletzt bearbeitet am 17. November 2020, um 18:16
Der Vollständigkeit halber ein weiteres Narrativ (ich mag dieses Wort; damit kann man so schön das eher negativ besetzte Wort „Mythos“ vermeiden), das mich nervt: Weil angeblich 2% der PCR-Tests „falsch positiv“ seien, wäre es ja klar, dass die Infektionszahlen (irreführenderweise) steigen. Auch hier gilt es zu antworten: NOPE. Martin Moder (ein toller Mann, ich liebeneben seinem messerscharfen rationalen Geist auch seinen herrlichen österreichischen Akzent) rechnet Euch in diesem Video fix vor, dass die Falschpositivrate nicht bei zwei Prozent, sondern lediglich bei 0,04% liegt, die sich durch die üblichen Wiederholungstests bei positiven Ergebnissen auf praktisch 0,00% reduziert:
https://www.youtube.com/watch?v=LNCRV03-79c&t=375s.
Soolbrunzer, 17. November 2020, um 18:16
zuletzt bearbeitet am 17. November 2020, um 18:17
Wie verhältnismäßig sind nun die Maßnahmen? Ich weiß es auch nicht. Nach meinem Geschmack sind meine persönlichen Freiheitsrechte nicht unverhältnismäßig eingeschränkt, zumal ich weiß, dass diese Einschränkungen zeitlich begrenzt sind. Viele Regelungen scheinen unsinnig. Mir ist auch klar, dass etwa Künstler und Gastronomen gerade richtig heftige Probleme haben. Aber immerhin – wir haben soziale Sicherungssysteme (ALGII) und die Politik bastelt auch nach wie vor an finanziellen Unterstützungen. Und freilich rede ich leicht als Krankenpfleger: Ich DARF arbeiten. Andererseits: Wir brauchen in der Pflege auch ohne Krise deutlich mehr Fachpersonal; also wer seine Existenz gefährdet sieht, darf gerne umsatteln – ich freue mich über jede/n neue/n Kolleg/in/en.
Soolbrunzer, 17. November 2020, um 18:18
zuletzt bearbeitet am 17. November 2020, um 18:19
Und was die Chance in der Krise ist: Missstände kommen nun mit Wucht ans Tageslicht. Missstände im Gesundheitswesen. Missstände im Kinderbetreuungs- und Schulwesen (vielleicht mag auch jemand Erzieher/in oder Lehrer/in werden?). Missstände in den sozialen Sicherungssystemen (vielleicht merken jetzt ein paar von den FDP-wählenden, ach so liberalen Solo-Unternehmern, dass ALGII möglicherweise doch etwas höher kalkuliert werden darf?). Missstände in der Ernährungsindustrie (z.B. Ausbeutung von Mensch und Tier in industriellen Schlachtbetrieben). Missstände in der Umwelt- und Klimapolitik (werden Pandemien durch den Umwelt-/Klimawandel noch befeuert oder wahrscheinlicher?). Wenn wir hier die richtigen Schlüsse ziehen, kann die Menschheit sich durch die und nach der Krise zu Besserem weiterentwickeln. Wenn, ja wenn wir uns vorher nicht gegenseitig mundtot machen, die Fronten sich verhärten und wir uns damit selbst blockieren.
Soolbrunzer, 17. November 2020, um 18:20
zuletzt bearbeitet am 17. November 2020, um 18:26
Damit wären wir abschließend noch beim Thema der Spaltung. Ja, ja, dreimal JA: Man DARF selbstverständlich über die Corona-Maßnahmen diskutieren. Man DARF sie in Frage stellen, reflektieren und kritisieren. Man darf aber vorher auch voraussetzen, dass es Menschen gibt, die in der Verantwortung stehen und Entscheidungen treffen müssen – auf rechtsstaatlichen Wegen, wie ich betonen möchte! Trotzdem gilt selbstredend auch für solche Entscheidungen:
„De omnibus dubitandum,“ an allem muss gezweifelt werden – das wusste nicht nur bereits Karl Marx. Diskurs gehört zur jeden lebendigen Demokratie. Wo ich jedoch Probleme mit habe, ist der Umstand, dass jegliche Antwort auf solcherlei Kritik gleich mit einem Angriff auf die Meinungsfreiheit des Kritisierenden gleichgesetzt wird. Und hier ähneln sich die Reaktionsweisen von Rechtspopulisten und Corona-Kritikern doch oftmals frappierend: „Das wird man wohl noch sagen dürfen,“ (ja natürlich darf man das – wäre das was Neues?) heißt es da gerne von beiden Gruppen, und wenn Rechtspopulisten gerne von der „Nazikeule“ schwadronieren, weil man ihnen z.B. sprachliche Nähen zum NS-Regime nachweist, so gehen Corona-Kritiker auch gerne in die Opferrolle, sie würden ja doch gleich als „Covidioten“ abgekanzelt. Das mag in Einzelfällen auch so sein (ist in beiden Fälle auch selten zielführend), aber die Reaktion kommt allzu oft eben auch bei bereits sehr sachlich gehaltenen Antworten – wo sich mir eben der Verdacht aufdrängt, dass man sich in der Opferrolle vor allem dann wohlfühlt, wenn man argumentativ nicht weiter kommt.
Und ein absolutes No-Go für mich: Regeln, die man nicht für richtig hält und gegen die man demonstriert bei der Demonstration oder auch im Alltag zu ignorieren. Bis meine Demonstration und mein Widerstand in meinem Sinne Wirkung zeigen, habe ich mich verflucht noch mal an die Regeln zu halten!
Ansonsten aber bleibe ich gerne für alle Argumente
offen: Deshalb lasst uns weiter freudig streiten, aber ohne mimosenhaft einzuschnappen, wenn wir mal Kontra bekommen. Dann vermeiden wir auch die Spaltung und bewahren uns ein Fünkchen Optimismus.
Optimistisch zu bleiben ist freilich zurzeit nicht leicht – mir machen indessen die Berichte über Impfstoffe aus o.g. Gründen wirklich Mut. Wenn zum Optimismus noch der Sinn für Solidarität kommt, dann bin ich mir jedenfalls sicher, dass wir nicht nur die Pandemie, sondern auch alle anderen Probleme der Gesellschaft irgendwann bewältigen können – und zwar gemeinsam.
spielfuehrer, 17. November 2020, um 18:24
respekt, sool!
Soolbrunzer, 17. November 2020, um 18:24
So.
Ich habe fertig.
Der Zeilenumbruch ist echt nervtötend.
Spielfuehrer, ich hoffe es geht bald weiter auf der A3...
HH111, 17. November 2020, um 18:27
Brrrrrrrrrr:das du eine Dr. arbeit schreibst wusste ich nicht,entschuldige!
spielfuehrer, 17. November 2020, um 18:28
geht wieder, aber bei 180 is jetzt tippen schwierig.
Soolbrunzer, 17. November 2020, um 18:34
Konzentrier dich bitte aufs Fahren...
spielfuehrer, 17. November 2020, um 18:35
ja wos soid denn i na ois doa?
ObiWan44, 17. November 2020, um 18:40
Toll geschrieben Sool. Bin halt nur bei den Impfungen noch ziemlich vorsichtig. Insbesondere bei den neuen mRNA Impstoffen. Da gibts halt noch keine Langzeitstudien und soweit ich das mit meinem Laienwissen verstanden habe, wird diese Art der Impfung beim COVID-19 zum ersten Mal in der Realität geimpft. Die meisten, die ich kenne und auch Coronaregeln für richtig empfinden , haben vor dieser Impfung echt Angst und wollen nicht in erster Reihe geimpft werden. Ganz ehrlich vor der neuen Impfunf ist mir echt mulmig und ich bin sicherlich kein Impfgegner.
ObiWan44, 17. November 2020, um 18:42
zuletzt bearbeitet am 17. November 2020, um 18:44
der Biologe clemens Arvay hat auf YouTube eigene Videos diesbezüglich hochgeladen.
spielfuehrer, 17. November 2020, um 18:44
des is nur, weil man zu lebzeiten immer so an seim leben hängt. hernach is ja des dann a andersd.